73. Int. Filmfestspiele Berlin

Die "Berliner Schule" im Wettbewerb

Die "Berliner Schule" im Wettbewerb

Der britische Kollege und ich sind uns einig: Der neue Film von Christian Petzold, „Roter Himmel“ (Start 20.4.), im Wettbewerb der 73. Berlinale ist sehr unterhaltsam und stellenweise sogar lustig. „And very German“, fügt er noch an, was mich stutzig macht. Was ist deutsch an einer Geschichte, in der sich ein junger Autor (Thomas Schubert) mit seinem besten Freund (Langston Uibel) ins Sommerhaus von dessen Familie zurückzieht, um dort konzentrierter arbeiten zu können, was aber nicht funktionieren will, weil schon eine junge, mysteriöse Frau (Paula Beer) dort wohnt, die allnächtlich mit dem örtlichen Bademeister, pardon Rettungsschwimmer (Enno Trebs), lautstark kopuliert? Die Grantigkeit, meint der Kollege: als Brite wäre der junge Autor zwar auch grantig, dabei aber viel höflicher.

Gut möglich, dass man im eigenen Land den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Bei Petzold brennt eben dieser Wald auch noch ab, was den Himmel titelgebend rot färbt. Die blind selbstzentrierte Grantigkeit passt als neue Variante gut ins Portfolio der Charaktere der Berliner Schule. Mehr lose Stilrichtung als dogmatische Bewegung mit Manifest findet der Zusammenschluss von Regisseur*innen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin seit Mitte/Ende der 90er Jahre seine Geschichten abseits vom Großstadttrubel in der menschlichen Innerlichkeit. Eigene Erfahrungen sind dabei immer willkommen. Mit Filmen wie „Die innere Sicherheit“ (2000) und zuletzt „Undine“ (2020) ist Petzold einer der prominentesten Vertreter dieser Strömung, die auch Angela Schanelec von Anfang an mitgeprägt hat. Beide konkurrieren in diesem Jahr um den Goldenen Bären, beide haben schon je einen Silbernen für die Regie bekommen, Petzold 2012 für „Barbara“, Schanelec 2019 für „Ich war zuhause, aber…“. 2023 ist sie mit „Music“ (Start 4.5.) im Rennen und enttäuscht damit vor allem ihre eingeschworene Fan-Gemeinde nicht. Schon in der ersten Einstellung wartet die Kamera in einer Totalen von oben auf eine karge Gerölllandschaft geduldig, bis sich das Bild gänzlich mit Wolken geschlossen hat. Nachdem so schon optisch alle Klarheiten beseitig sind, legt Schanelec in den folgenden 108 Minuten szenische Mosaikteile aus, die in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt lose den Ödipus-Mythos im heutigen Griechenland (und in Berlin) nacherzählen. Beim Puzzeln hilft es, sich weniger an den von Freud entwickelten Komplex zu halten als mehr an den Schwellfuß, nach dem Ödipus benannt wurde.

Bis ganz zuletzt haben sich die Planer des diesjährigen Wettbewerbs Christoph Hochhäuslers Krimi „Bis ans Ende der Nacht“ (Start 6.7.) aufgehoben. Schmutzig, schnell und mit einer Kamera, die ständig unterwegs ist, erzählt der Regisseur („Die Lügen der Sieger“, 2014), der zur zweiten Generation der Berliner Schule gehört, einen Drogen-Thriller im Frankfurter Club-Milieu. Um dem dealenden DJ Arth (Michael Sideris) auf die Schliche zu kommen, bekommt der verdeckte Ermittler Robert (Timocin Ziegler) die Transfrau Leni (Thea Ehre) an die Seite gestellt. Schon im betriebsamen Vorspann sieht man, wie Handwerker aus einem gänzlich weißen Apartment das konspirative Liebesnest von Leni und Robert wohnlich machen und mit einer Legende ausstatten. Immer wieder wird es zwischen den beiden zu erbitterten Kämpfen um einzelne Gegenstände kommen. So sehr, dass sich sogar der DJ als emotionaler Vermittler einschaltet.

So unterschiedlich alle drei Filme auf dem ersten Blick scheinen: Was sie eint und eben als Berliner Schule auszeichnet, ist das Vermögen, das menschliche Seelenleben in Örtlichkeiten mit ganz eigener Kartographie zu verwandeln. Dass es sich dabei um brennende Wälder, karge Gesteinswüsten und gefakte Wohnzimmer handelt, ist weniger dem deutschen Gemüt allgemein zuzuschreiben als mehr dem Talent deutscher Regisseur*innen, die Menschheit in ihrer aktuellen Situation visuell darzustellen. Und tatsächlich leben wir, um es höflich auszudrücken, in grantigen Zeiten.

Roter Himmel © Christian Schulz / Schramm Film

Edda Bauer