Berlinale 2019

Auftakt

Das Private ist politisch

Schon vor Beginn der 69. Berlinale war viel vom Ende die Rede. Vom drohenden Ende des Kinos, wie wir es kennen, weil immer mehr Menschen das heimische Sofa vorziehen. Vom Ende von Glanz und Glamour, weil immer weniger Stars an die Spree kommen. Und natürlich vom Ende der Amtszeit von Festivaldirektor Dieter Kosslick. Das alles stimmt, und stimmt auch wieder nicht – jedenfalls nicht so.

Ja, Kosslick nimmt seinen berühmten Hut und überlässt ab dem nächsten Jahr die Leitung eines der renommiertesten Filmfeste der Welt der Doppelspitze Mariette Rissenbeek (geschäftsführende Leitung) und Carlo Chatrian (künstlerische Leitung). Wie er selbst sagt, gibt er – den man gerne den Sonnenkönig nannte – das Zepter mit einem lachenden und einem weinenden Auge ab. Lachend, weil er sich nun endlich mehr seiner Familie widmen kann – Kosslick ist mit seinen 70 Jahren Vater eines 13-jährigen Sohnes. Weinend, weil ihm das Publikum fehlen wird. Mehrere 100.000 Zuschauer sind es jedes Jahr. Menschen jeden Alters, die früh morgens in den Arkaden am Potsdamer Platz vor dem Ticketschalter campieren, um eine der begehrten Eintrittskarten für den Wettbewerb zu ergattern. Cineasten, die Hunderte Inhaltsangaben in den Katalogen der verschiedenen Sektionen durchforsten, um dort die eine Filmperle aus der Mongolei, Paraguay oder sogar aus Deutschland zu entdecken, von der man auch noch 10, 20 Jahre später schwärmt. Sollte das Kino als Ort des gemeinsamen Erlebens jemals sterben, auf einem Filmfestival wird das definitiv nicht passieren. Schon gar nicht auf der Berlinale, dem größten Publikumsfilmfestival der Welt.

Tatsächlich weniger geworden sind die Stars. Zumindest in ihrer Funktion als Stars. Seit die Oscar-Verleihung zeitlich nach vorne gerückt ist und die Academy of Motion Picture Arts and Sciences ihre Nominierungen schon vor der Berlinale bekannt gibt, haben Hollywoods Kreativkräfte besseres zu tun als sich an der Spress eine Erkältung zu holen. Eine Oscar-Nominierung heißt Werbetrommel rühren, für sich, den Regisseur, den Film bei Galas, Lunches und Parties. Wenn also Christian Bale nach Berlin kommt, obwohl er sich als ehemaliger US-Vize-Präsident Dick Cheney in der Polit-Satire „Vice; Der zweite Mann“ Hoffnungen auf die Trophäe machen kann, dann ist das ein Kurzurlaub, der ihm in Hollywood Punkte kosten kann. Ehemalige Oscar-Kandidaten wie Casey Affleck („Manchester By the Sea“), Chiwetel Ejiofor („12 Years a Slave“) und Jonah Hill („The Wolf of Wall Street“) nutzen die diesjährige Berlinale, um ihre Spielfilmdebüts zu präsentieren als Special Gala oder in der Sektion Panorama. Der Brasilianer Wagner Moura, der zuletzt als serieller Pablo Escobar in „Narcos“ positiv aufgefallen ist, hat sein Regiedebüt, ein Biopic über den Schriftsteller und Marxisten „Marighella“ sogar im Wettbewerb untergebrach, wenn auch außer Konkurrenz. Dieter Kosslick gibt den Staffelstab als Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin also im vollen Lauf ab. In einer Sache liegt er sogar vor allem anderen großen Filmfesten der A-Kategorie: Im Wettbewerb hat er die 50:50 Quote an weiblichen und männlichen Filmemachern fast erreicht. Es steht 7 zu 10. Und hier das ganze Feld:

WETTBEWERB:

„Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer (Österreich)

„Di jiu tian chang (So Long, My Son) von Wang Xiaoshuai (Volksrepublik China)

„Elisa y Marcela“ (Elisa und Marcela) von Isabel Coixet (Spanien)

„Der goldene Handschuh“ von Fatih Akin (Deutschland / Frankreich)

„Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija“ (God Exists, Her Name ist Petrunija) von Teona Strugar Mitevska (Mazedonien / Belgien / Slowenien / Kroatien / Frankreich)

„Grace à Dieu“ (Gelobt sei Gott) von Francois Ozon (Frankreich)

„Ich war zuhause, aber“ von Angela Schanelec (Deutschland / Serbien)

„The Kindness of Strangers“ von Lone Scherfig (Dänemark / Kanada / Schweden / Deutschland / Frankreich)

„Kiz Kardesler“ (A Tale of Three Sisters) von Emin Alper (Türkei / Deutschland / Niederlande / Griechenland)

„Mr. Jones“ von Agnieska Holland (Polen / Großbritannien / Ukraine)

„Öndög“ von Wang Quan‘an (Mongolei)

„La paranza dei bambini“ (Piranhas) von Claudio Giovannesi (Italien)

„Répertoire des villes disparues“ (Ghost Town Anthology) von Denis Coté (Kanada)

„Synonymes“ (Synonyme) von Nadav Lapid (Frankreich / Israel / Deutschland)

„Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt (Deutschland)

„Ut og staele hester“ von Hans Petter Moland (Norwegen / Schweden / Dänemark)

„Yi miao zhong“ von Zhang Yimou (Volksrepublik China)

AUßER KONKURRENZ:

„L’adieu à la nuit“ (Farewell tot he Night) von André Téchiné (Deutschland / Frankreich)

„Amazing Grace“ realisiert von Alan Elliott (USA)

„Marighella“ von Wagner Moura (Brasilien)

„The Operative“ (Die Agentin) von Yuval Adler (Deutschland / Israel / Frankreich)

„Varda par Agnès“ (Varda By Agnès) von Agnès Varda (Frankreich)

„Vice“ (Vice – Der zweite Mann) von Adam McKay (USA)

Edda Bauer